GEMONA UND VENZONE

 
         
 

emona und Venzone, oder die Epizentren des Erdbebens von 1976. Zwischen dem Abend des 6. Mai und dem Morgen des 15. September vor nunmehr fast fünfundzwanzig Jahren wurden die beiden Orte, die zu den bedeutenden historischen Zentren der Region gehören, praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Keiner hätte an eine Wiedergeburt aus diesem Trümmerhaufen geglaubt. Und dennoch ist dieses Wunder geschehen, obwohl die Zerstörung so radikal war, dass nicht nur eine „philologische“ Wiederherstellung der einzelnen Gebäude notwendig war, sondern auch eine Revision der ursprünglichen Anlage der Stadt. Heute ist es also wieder möglich, die Straßen und kleinen Gassen auf der Suche nach den Zeugen einer großen Vergangenheit zu durchstreifen.
    Das Territorium um Gemona, in dem auch Spuren prähistorischer Ansiedlungen zu finden sind, wurde von den Kelten besiedelt, später von den Römern, die hier zwei Zollstationen und ein castrum begründeten. Nach den Einfällen der Quaden und Markomannen (166 und 167 n.Chr.) floh die überlebende Bevölkerung auf den Berg Glemina und errichtete hier die ersten Strukturen der späteren, mittelalterlichen Stadt. La facciata del duomo di Gemona. The facade of Gemona cathedral. Fassade des Doms von Gemona.
    Die auf einer römischen Befestigungsanlage entstandene Burg wurde während der späteren Herrschaft der Langobarden erweitert; unter den Patriarchen wurde sie erneut umgebaut und die Herren von Gemona als Lehnsherren eingesetzt. 1321 ging die Burg in das Eigentum der Gemeinde über und erfuhr eine radikale Umgestaltung. Seit der Herrschaft Venedigs dem Verfall preisgegeben, stürzte sie durch das Erbeben von 1976 völlig in sich zusammen: ihr Wiederaufbau ist heute bereits weit fortgeschritten.
    Ebenfalls auf das Mittelalter geht der monumentale Dom Santa Maria Assunta zurück, ein herrliches Beispiel für romanisch-gotische Kirchenbaukunst, errichtet auf früheren Kultgebäuden aus der Zeit der Karolinger, der Otto-Kaiser und der romanischen Epoche. Der 1290 von „Maestro Giovanni“ (wie eine Inschrift auf der Fassade besagt) begonnene Bau erhielt seine Weihe 1337. Zahlreich waren die Umbauten und Restaurierungen in den folgenden Jahrhunderten. Teilweise durch das Erdbeben des Jahres 1976 zerstört - wie auch der Glockenturm aus dem 14. Jh. - erfolgte der Wiederaufbau unter Verwendung der originalen Materialien. Die äußere Fassade erhält ihr charakteristisches Gepräge durch das romanische Portal, die sehr elegante zentrale Rosette von Maestro Buceta (1334-1336) und die zahlreichen Skulpturen, darunter die originelle Galerie der Heiligen Drei Könige (erste Hälfte des 14. Jh.), die Giovanni Griglio zugeschrieben wird, von dem, gemeinsam mit seinem Sohn, auch die imposante, als Halbrundplastik gearbeitete Christophorusstatue auf der rechten Seite (1331-1332) stammt; auf der Rückseite wird die als halbes Vieleck ausgebildete Apsis (1429) durch drei schlanke, gotische Fenster aufgelockert und durch vier Strebepfeiler gestützt. Der Innenraum ist 

 

dreischiffig mit Kreuzgewölben und erhält seine Gliederung durch zwei mächtige Säulenreihen aus rotem Marmor mit Kapitellen in Flamboyant, auf denen die gotischen Spitzbögen aufgesetzt sind. Die tiefere Krypta ist aus einem früheren, genau abgegrenzten Gebäude entstanden: eine dem heiligen Michael und Johannes dem Täufer geweihte Gedächtniskapelle, ein kleines, vollständig mit Fresken ausgeschmücktes Oratorium. Dieser vermutlich in der ersten Hälfte des 14. Jh. gemalte Zyklus stammt von Nicolò di Giacomo aus Gemona, wie auch eine als Freskomalerei ausgeführte Madonna della Misericordia in einer Kirche („Chiesa dei Templari“) in San Tomaso di Majano. Von den zahlreichen Kunstwerken, die im Dom aufbewahrt sind, möchten wir anführen: das Taufbecken in der Kapelle, das aus einem römischen Grabaltar aus dem 1.-2. Jh. n.Chr. herausgearbeitet wurde, geschmückt mit frühmittelalterlichen Basreliefs (9.-10. Jh.); die herrlichen, reich geschmückten liturgischen Handschriften (13.-14. Jh.), die Mitte des 14. Jh. in Padua erworben wurden; die kostbare Monstranz von Nicolò Lionello, ein 1434 für die Pfarrkirche Santa Maria angefertigtes Meisterwerk kirchlicher Goldschmiedekunst; ein Holzkruzifix friulanischer Schule aus der ersten Hälfte des 15. Jh., das vom Erdbeben des Jahres 1976 stark beschädigt wurde und zum Symbol für die Wiedergeburt von Gemona geworden ist; die große Leinwand mit der Himmelfahrt Mariä des aus Udine stammenden Malers Gian Battista Grassi (1577).
    Vom Dom führt der Weg in die Via Bini, die den antiken Kern der unter der Burg entstandenen Ansiedlung darstellt;
sie führt zum Rathaus, das im Renaissancestil errichtet ist. Begonnen wurde mit dem Bau 1502 im venezianisch-lombardischen Stil. Nach dem Erdbeben wurde es aus den ursprünglichen Materialien wieder aufgebaut.
    Weitere historische Gebäude in dieser Straße sind: Palazzo Gurisatti (15. Jh.); das neugotische Haus der Familie D‘Aronco (19. Jh.); das mittelalterliche Haus Antonelli (13.-14. Jh.), mit Fassadenbekleidung aus Ziegeln und einem zweibogigen Doppelfenster; der grandiose Palazzo Elti aus dem 15. Jh., in dem heute das Museum untergebracht ist. Zur Ausstellung gehören zwei Skulpturen aus dem Salzburger Raum, die auf den Beginn des 15. Jh. zurückgehen und ursprünglich im Dom bzw. in der Wallfahrtskirche Sant‘Antonio aufbewahrt waren; die Sammlung Fantoni-Baldissera (Bilder und Skizzen von vorwiegend österreichischen und deutschen Meistern des 18. Jh.); Gemälde, Skulpturen und Goldschmiedearbeiten aus gemeindeeigenen Sammlungen oder aus dem Besitz von Kirchen in Gemona, die zerstört und nicht wieder aufgebaut wurden. Besonders erwähnenswert: das Tafelbild einer Madonna mit Kind von Cima da Conegliano, früher in der Kirche Santa Maria delle Grazie, aus 1496; die Leinwand von Pellegrino da San Daniele mit einer Madonna mit Kind zwischen den Heiligen Josef und Elisabeth, ebenfalls aus der genannten Kirche, das um 1506 entstanden ist; sechs von Pomponio Amalteo 1533 bemalte Felder einer Holzkassettendecke aus der zerstörten Kirche San Giovanni Battista.
    Um das historisch-künstlerische Bild von Gemona zu vervollständigen, ist noch zu erwähnen, dass durch das Erdbeben zwei bedeutende Bilderzyklen ans Licht gebracht wurden, deren Existenz vorher unbekannt war. Im bereits erwähnten Haus Antonelli wurden originale Fresken aus der ersten Hälfte des 14. Jh. mit der Darstellung religiöser Themen und weltlicher Szenen entdeckt. In der Allerheiligenkirche in Ospedaletto wurden hingegen drei überlagerte Schichten von Freskomalereien freigelegt; einige Bruchstücke der ersten Schicht (ca. 1394-1401) und zwei Felder der dritten Schicht (ca. Mitte des 15. Jh.), wurden nach der Ablösung für ihre Restaurierung auf Glasfaserkunststoff wieder in der Kirche ausgestellt; erneut auf den Seitenwänden und der Rückwand aufgebracht wurde hingegen die mittlere, vorherrschende Schicht, vermutlich von einem volkstümlichen Maler nach 1401 ausgeführt, als die Erweiterung der Kirche beschlossen wurde.

(fortsetzung folgt )